Grenzen setzen, Wut begleiten

Wenn Kinder nicht haben können, was sie gerne hätten und warum das wichtig ist

Wir hatten unseren Esstisch im Wohnzimmer umgestellt von längs auf quer, da wir ihn so ausziehen und eine lange Tafel decken konnten. Der Tisch war inzwischen zwar nicht mehr extra lang, stand aber immer noch quer und Louise, meine 5 jährige Tochter wollte nicht an diesem Tisch sitzen. Sie wollte ihren Platz wie immer und weinte deswegen wütend.

Ich schlug ihr vor, an der Stirnseite zu sitzen, der Platz kam dem ihrem am nächsten, aber sie fauchte mich nur wütend an: „NEIN, DA SITZ ICH NICHT!“. Okay, so einfach war das also nicht zu lösen.

Statt sie jetzt stehen zu lassen oder ihr zu sagen, “Na, da musste dann eben sehen wie du kommst” oder, dritte Variante, nun hasstig den Tisch zu drehen, um das Weinen zu beenden, gab ich ihr einfach Empathie mit SAG WAS DU SIEHST, einem ganz wichtigen Coaching Tool bei Language of Listening®: „Du willst dort nicht sitzen, Du willst deinen alten Platz so wie immer!“, „JA“ kam es da entschlossen zurück.

Wir anderen wollten den Tisch aber gern so stehen lassen und so sagte ich: „Wir möchten gern, dass er so stehen bleibt.“  Louises Reaktion: „Ich will aber.” Inziwschen hatte sie sich auf die kleine Bank vors Fenster gesetzt und weinte. Ich setzte mich zu ihr und wollte sie streicheln. Aber das war eine schlechte Idee. „Lass mich“ fuhr sie mich an. Ich wusste, dass ich ihr durch diesen Frust hindurchhelfen würde, blieb ganz ruhig sitzen und nahm die Hand zurück. „Dann ess ich eben nicht mit Euch“ sagte sie wieder.

Ich machte SWDS: Du willst gern so sitzen wie immer. Was anderes kommt nicht in Frage“. Ich suchte nach einer Lösung. Wenn sie nicht bei uns am Tisch essen wollte, dann vielleicht woanders? „Vielleicht willst Du an Deinem Schreibtisch essen?“ “Nein, das will ich nicht!“ Sie war wirklich verzweifelt. Ich wischte ihr die Tränchen ab und gab ihr so zu verstehen, dass ich weiterhin bei ihr war und mich ihre Wut nicht erschüttern konnte.

Worum geht es wirklich?

Wenn der Schreibtisch oder irgendein anderer Platz nicht in Frage kam, dann ging es also nicht so sehr um den Platz, sondern darum, dass sie sich übergangen fühlte und Power brauchte. (Power ist eines der nur drei grundlegenden Bedürfnisse bei Language of Listening®. In diesem Fall also  Mitbestimmung und hier wohl auch einfach der Wunsch danach, gesehen zu werden. Dafür war ‚Platz aussuchen‘ zu wenig.

Der Frühstückstisch war gedeckt, alle wollten anfangen zu essen und warteten auf eine Lösung. Ich sagte nochmal: Louise, der Tisch bleibt so stehen, wir möchten es jetzt gern so und nun müssen wir eine Lösung finden.” Jetzt weinte sie noch lauter.

Früher hätte mich das total getriggert und ich hätte wahrscheinlich gesagt: “Hör auf zu heulen, es gibt echt größere Probleme als ein Tisch, der andersherum steht. Such dir einen Platz und wenn nicht dann nicht!“ Gottseidank weiß ich es inzwischen besser.

Bei solchen Antworten haben die Kinder eigentlich nur zwei Möglichkeiten: entweder kooperieren oder klein bei geben.

Aber damit negieren sie ihre eigenen Bedürfnisse und deshalb fühlt sich das für Kinder oft nicht machbar an. Dann gehen sie in unseren Augen weiter auf Konfrontation, was nur heißt, dass sie für ihre Bedürfnisse einstehen. Das ist allerdings auch sehr schwer, weil es sie isoliert und das Problem vergrößert. Was sie wirklich brauchen, ist jemand, der ihre Bedürfnisse sieht oder zumindest verstehen will. Der sie akzeptiert, so wie sie eben sind, auch mit Wutanfall.

Eine Win-Win-Lösung finden

Ich saß neben ihr und schaute sie an. Das laute Weinen war für mich ein gutes Zeichen, denn Weinen bedeutet oft Anpassung an eine neue ungewollte Situation. Es hieß wahrscheinlich, dass sie gemerkt hatte, dass wir nicht gewillt waren, irgendetwas an der Tischsituation zu ändern.

Der Frust darüber brach aus ihr heraus – gleichzeitig half ihr das Weinen, die neue Situation zu akzeptieren.

Ich legte den Arm um sie und diesmal durfte er bleiben. Tränchen abwischen, sitzen, seufzen. Auf einmal sagte sie unter Tränen und starrte dabei aus dem Fenster: „Moritz soll neben mir sitzen“. „Okay“, dachte ich, „sie will eigene Parameter festlegen“ (Bedürfnis nach Power/Selbstwirksamkeit).

Moritz protestierte. Eine laut weinende Schwester war gar nichts für ihn. Aber vielleicht gab es noch eine Chance? Ich sagte Louise, dass ihr Weinen für Moritz zu viel sei. Da wolle er nicht neben ihr sitzen. Normalerweise bin ich kein Fan solcher Aussagen, weil sie meist nur dazu dienen sollen, das der andere aufhört. In diesem Fall aber wollte ich ihr einen Zusammenhang erläutern.

„Ich wein‘ ja gar nicht,“ presste Louise trotzig hervor und beruhigte sich tatsächlich. Sie merkte, dass vielleicht doch noch Hoffnung bestand. Moritz war immer noch nicht überzeugt. Nein, er wollte nicht neben ihr sitzen sondern lieber neben Mama. Das puzzle wurde immer kompexer und nun hatte mein Mann genug. Zu Moritz gewandt sagte er: „Ich schmier Dir Dein Brötchen, wenn Du neben Louise sitzt“. Sofort kam ein „Okay“ aus Moritz‘ Mund und ein Strahlen auf Louises Gesicht. Moritz ist zwar schon 8, aber Butter allein auf Brot oder Brötchen schmieren ist eine ihm wirklich verhasste Tätigkeit, die er beharrlich versucht, an Mama, Papa oder sogar Louise auszulagern.

In welcher Welt wollen wir leben?

So konnte also endlich das Frühstück beginnen. Es war kein Problem mehr, wie wir saßen. Louise bat mich, ihr Brötchen zu schmieren, was ich ohne Umschweife tat, auch wenn sie das schon selbst kann. Ich hatte gemerkt, sie brauchte Power, und hier war wieder eine Gelegenheit ein bisschen davon zu kriegen, indem sie Mama bitten konnte, etwas für sie zu tun.

Das Beeindruckende an dieser Herangehensweise ist, dass keine Resentiments zurückbleiben. Keiner grollt mehr, die Stimmung ist unbelastet. Das ist das Tolle daran, wenn wir Gefühle begleiten und sie sehen können ohne sie ändern zu wollen. Dann müssen wir nicht klein bei geben, den Tisch verrücken oder anderweitig die Situation so anpassen, dass sie unseren Kindern gefällt, damit sie aufhören zu weinen. Nein, darum geht es nicht.

Es geht nicht darum, die Welt unseren Kindern anzupassen. Es geht darum, ihnen zu helfen, in einer Welt zurechtzukommen, die ihnen nicht immer gefällt.

Und dabei geht es auch nicht um “Friss oder stirb” also quasi darum, alles zu akzeptieren, wie es eben ist. Es geht darum, zu schauen, wie es einem geht und was man braucht, um in dieser Welt klarzukommen. Für Louise war es ihr Bruder an ihrer Seite und Mama, die das Brötchen für sie schmiert. So lernt sie, dass sie in dieser Welt etwas zu sagen hat und nicht alles hinnehmen braucht.Sie lernt, für sich einzustehen. Und sie lernt, dass ihre Gefühle okay sind.

Stärken benennen

Im Nachhinein ist dies auch eine gute Gelegenheit, Stärken herauszustellen. Zum Beispiel so: “Louise, du wolltest nicht hier sitzen, aber dann hast Du gemerkt, dass es gehen könnte, wenn Moritz neben Dir sitzt. Du weißt, was Du brauchst. Du stehst für dich ein, Du findest eine Lösung.” 

Alles wunderbare Sätze, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken und ihr Vertrauen in sich selbst zu erhöhen.

So lernen Kinder, dass Wut okay ist, begleitet wird und wir gemeinsam eine Lösung finden. Wir unterstützen im Prozess, schließen nicht aus oder lassen sie irgendwo wütend stehen. Denn Kinder sollen nicht bestraft werden für ihre großen Gefühle, mit denen sie noch nicht umgehen können. Wir können ihnen stattdessen helfen, diese Gefühle zu verstehen und gemeinsam mit ihnen Wege entwicklen, wie sie mit der Situation umgehen wollen. Dafür sind wir als Eltern immer an ihrer Seite, auch in Zeiten von Wut, Frust und Tränen.

Noch ein Nachsatz zu Papas Versprechen, Moritz sein Brötchen zu schmieren. In manchen Ansätzen wird das als Belohnung und damit als eine Art Erpressung angesehen. Das kann man so sehen. Ich bin der Meinung, dass es auch sonst im Leben für gewisse Verhaltensweisen positives Feedback, Incentives oder ähnliches gibt. In diesem Fall haben wir so einfach eine Win-Win Situation hergestellt. Louise gewann, weil sie neben Moritz sitzen durfte und Moritz gewann, weil er sein Brötchen nicht selbst schmieren brauchte – und so auch ein bisschen extra Liebe bekam, nachdem Louise gerade sehr viel Aufmerksamkeit und Zuwendung benötigt hatte. Für uns eine gute Lösung.

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